In ihrem Dokumentarfilm
„High Skills“ lenkt Mona Suzann Pfeil, Künstlerin und Businessberaterin, das
Augenmerk auf die Stärken Hochsensibler. Sie ist fest davon überzeugt, dass von
deren Entfaltung die Unternehmen profitieren. Mit ihrer Vision eines Highly
Sensitive Business will sie Verantwortliche in der Wirtschaft dafür gewinnen,
sich mit einem neuen Leitbild neue Chancen zu erschließen. Über ein weithin
verkanntes Persönlichkeits- und Qualifikationsmerkmal spricht sie im Interview
mit der Journalistin Renate Schauer.
Renate Schauer: Warum brechen Sie für Hochsensible eine Lanze?
Mona Suzann Pfeil
(Pfeil): Sie leben unter uns mit teilweise unentdeckten Potenzialen!
Hochsensibilität ist ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal wie das Temperament
oder die Körpergröße. Niemand kann beschließen: Ich will hochsensibel sein oder
– umgekehrt – ich will meine Sensibilität reduzieren. Da sich ein hochsensibler
Mensch von Anderen unterscheidet, muss er mit seiner Prägung zurechtkommen.
Auch die Menschen in seinem Umfeld merken, dass er anders ist.
Steht ihm das Anderssein im Weg oder eröffnet es Chancen?
Pfeil: Wie bei jedem
Menschen ist es wichtig, dass ein hochsensibler am richtigen Platz wirken kann.
Das beginnt schon in der Kindheit. Je früher die Hochsensibilität und die
daraus resultierenden Stärken erkannt werden, desto eher und besser kann das
Kind gefördert werden. Als Heranwachsender bewusst mit den eigenen Stärken und
Schwächen umgehen zu lernen, erhöht die Chance, später auch die richtigen
Weichen fürs Berufsleben zu stellen.
Gibt es Frustrationen?
Pfeil: Ja, wie in
jedem Leben. Doch wenn sie vor allem mit dem Anderssein zu tun haben, drängt
das ziemlich in die Defensive. Das führt dazu, dass die Stärken der
Hochsensibilität nicht nutzbar werden. Die oder der Betroffene versteckt die
sensible Seite, kann sie nicht zum Vorteil für Arbeit und Wirken entwickeln.
Wie erkennt man Hochsensibilität?
Pfeil:
Hochsensibilität hat verschiedene Ausprägungen. Alle Hochsensible eint jedoch,
dass sie viel intensiver auf die Reize ihrer Umwelt reagieren. Sie haben sehr
feine Antennen und registrieren schon kleinste Impulse. Ihr Hirn arbeitet oft
wie eine Turbomaschine im Dauerbetrieb. Beim einen führt das zu großer
Empathie, den anderen befähigt dies zum Spezialistentum auf einem bestimmten
Gebiet. In meinem Film erzählen Hochsensible und Hochbegabte, wie sie mit ihren
Talenten zu dem wurden, was sie heute sind.
Sie unterscheiden Hochsensibilität und Hochbegabung?
Pfeil: Ja. Das eine
kann unabhängig vom anderen vorkommen, aber auch gemeinsam. In meiner
Beratungs-Tätigkeit zeigt sich, dass unter Hochbegabten wahrscheinlich mehr
Hochsensible anzutreffen sind als in der Bevölkerung allgemein, wo man von 15
bis 20 Prozent spricht.
Feine Antennen machen empfindsam ...
Pfeil: Das stimmt!
Es nährt das Vorurteil, Hochsensible seien überempfindlich, rasch
überstrapaziert, nicht belastbar. Abfällig heißt es vielleicht: „Die hören das
Gras wachsen“, aber sie sind es dann eben auch, die früher als Andere
Fehlentwicklungen wittern und Störungen benennen können.
„Unsere Gesellschaft pflegt ein defizitäres Denken“
Sie sind die geborenen Seismografen?
Pfeil: Das ist eine
der Stärken von Hochsensiblen. Oft zeichnen sie sich als Vor- und Querdenker
aus, machen als Forscher und Entwickler Karriere oder überzeugen als Berater
mit Weitblick. Somit fallen sie auf in unserer Gesellschaft. Ihre Lebensläufe
weichen ab von denen der meisten Menschen, das verunsichert Nicht-Hochsensible
oft.
Trotz der vielbeschworenen Diversity?
Pfeil: Ohne
Richtschnur ist für die meisten von uns eine Gesellschaft nicht vorstellbar. Es
kommt aber ganz entscheidend darauf an, wie ich als Einzelner mit jemandem
umgehe, der davon abweicht, was landläufig als die Norm oder das Mittelmaß
definiert wird. Wenn wir uns gegenseitig ins Abseits drängen, lernen wir
niemals den Beitrag kennen, den ein Mensch, der anders tickt, für die
Gesellschaft leisten könnte – und kann. So verschenken wir weiterhin Vorteile
und lassen Talente brach liegen. Hier braucht es ein Mehr an
Aufgeschlossenheit, dieses möchte ich mit meinem Film fördern und fordern.
Welche Vorteile hat Hochsensibilität für die Gesellschaft und die
Wirtschaft?
Pfeil: Mit ihren
Fähigkeiten können Hochsensible die Wirtschaft zukunftssicherer machen. Ein
Unternehmen sollte sich solche Talente leisten wollen und sie halten.
Nennen Sie ein Beispiel aus Ihrer Praxis als Business-Trainerin und
Beraterin!
Pfeil: Klären wir
zuerst: was heißt zukunftssicher? Darunter versteht jeder etwas anderes. Für
mich hat es viel mit nachhaltiger Rentabilität zu tun: an den Bedürfnissen des
Marktes orientiert bleiben und sich keine Sünden gegen Personen oder Umwelt
erlauben. Nicht in Verruf geraten und infolgedessen Pleite gehen – weil Kunden
ausbleiben oder sich abwenden oder weil gute Mitarbeiter abwandern. Auch
Nicht-Hochsensiblen ist es heute wichtig, sich mit Arbeitgeber oder
Geschäftspartner identifizieren zu können. Kleinigkeiten können heute ganz
schnell einen Shit Storm im Internet auslösen. Die Wirkung nach außen ist
wichtiger denn je, Qualität und ein guter Ruf machen attraktiv. Das Ansehen
eines Unternehmens wird nach Bewertungen im Internet beurteilt, Bewerber suchen
sich ihre zukünftigen Arbeitgeber danach aus. Hochsensible Mitarbeiter
beispielsweise als Leitbild-Entwickler und Unternehmensethik-Controller oder
als Community Manager eingesetzt, können eine Unternehmenskultur der
Achtsamkeit und des Respekts sowie eine nachhaltige Social Media Arbeit
hervorbringen – beste Voraussetzungen für Zukunftssicherheit.
Wozu möchten Sie Betroffene ermutigen?
Pfeil: Im Film
kommen Menschen zu Wort, die sich Bedingungen geschaffen oder erkämpft haben,
die ihnen zuträglich waren. Da ist die Frau, die im Großraumbüro viel zu viel
Energie aufwenden musste, um den Geräuschpegel weg zu filtern. Sie konnte ihre
Arbeitsqualität und ihr Arbeitsquantum steigern, nachdem sie einen ruhigeren
Platz eingefordert hatte. Oder die ehemalige Mini-Joberin, die heute
Geschäftsführerin ist.
Könnten das Vorbilder sein?
Pfeil: Jeder sollte
sich nach seinen Ambitionen und Bedürfnissen fragen. Viele Hochsensible haben
mehr als nur ein oder zwei Begabungen und können sich oft zwischen diesen nicht
entscheiden. Sie sollten alle ihre Facetten ernst nehmen und nach dem
geeigneten Job und Arbeitsumfeld Ausschau halten, wo möglichst viele ihrer
Talente zur Geltung kommen können. Genau darin sind erfolgreiche Hochsensible
vorbildlich: Aktiv beeinflussen sie die Rahmenbedingungen für ihre Arbeit und
ihr Wirken. Eine Orchidee gedeiht mit anderer Pflege als Efeu oder ein
Rosenstrauch.
„Das Etikett 'Überempfindlichkeit' ist falsch“
Versuchen viele, ihre Hochsensibilität zu verstecken?
Pfeil: Wenn
Fähigkeiten keine Wertschätzung erfahren, wirkt das wie eine Zurückweisung. Es
behindert die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls. Und begabte
Menschen zweifeln sowieso leicht an sich selbst, stellen ihre Denk- und
Lösungsansätze in Frage.
Selbstkritisch mit hohem Anspruch an sich selbst?
Pfeil: Wer hochsensibel
oder besonders begabt ist, hat nicht automatisch ein leichteres Leben.
Hochsensibilität und Hochbegabung bedeutet auch nicht, auf allen Gebieten
schlau zu sein. Nicht selten haben diese Menschen mehrere Talente und sind fest
überzeugt, nichts wirklich gut zu können. Hinzu kommt, dass unsere Gesellschaft
leider nicht nur auf das Gängige und Durchschnittliche „geeicht“ ist, sondern
sie pflegt auch ein defizitäres Denken. Das heißt, die Aufmerksamkeit ruht mehr
auf den Schwächen als auf den Stärken. Der Hirnforscher Dr. Manfred Spitzer
bringt das im Film auf den Punkt und nennt es eine „gigantische
Demotivationskampagne“, die Menschen ständig mit ihren Schwächen zu triezen.
Ein selbstkritischer Mensch muss also viel Energie aufwenden, um sich mit
seinen Besonderheiten ins rechte Licht zu stellen.
Wer kann die Hürden abbauen?
Pfeil: Jeder.
Vorurteile gehören auf den Prüfstand. Zum Beispiel ist das Etikett
„ÜBER-Empfindlichkeit“ falsch. Es zeugt von einer Art Abwehr-Pathologisierung ,
die auf Vergleichen mit imaginären Normwerten beruht. Viel sinnvoller ist es, die besonders hohe Wahrnehmungs-Begabung als das zu sehen,
was sie ist: ein äußerst positives Qualifikationsmerkmal, dessen Nutzen man
nicht mehr missen möchte, hat man ihn erst erkannt.
Umdenken braucht Zeit …
Pfeil: So ist es.
Einiges ist schon auf einem guten Weg. Ich bin nicht die Einzige, die diesem
Thema Stimme und Gewicht gibt. Und mein Film soll die Schubkraft steigern, soll
neugierig machen auf den Benefit durch Hochsensibilität.
Wissen Hochsensible selbst um diesen Benefit?
Pfeil: Nicht immer.
Sie wissen, sie haben eine andere „Komfortzone“, in der sie sich vorteilhaft
entfalten. Oft suchen sie instinktiv Nischen, in denen sie „gedeihen“ können.
Hochsensible sollten Mut fassen und auf die positiven Ergebnisse hinweisen, die
sie dank ihrer hohen Skills erzielen. So können sich Vorgesetzte und Kollegen
damit auseinandersetzen und die Leistungen spezifisch anerkennen.
Aber muss nicht erst Aufgeschlossenheit da sein?
Pfeil: Im Idealfall
geht es Hand in Hand. Das Szenario: Hochsensibilität wird nicht mehr versteckt
und von der Mitwelt toleriert. Die Förderung der High Skills wird zunehmen und
damit auch der Respekt vor den besonderen Leistungen eines jeden Menschen. Im
Moment mag es noch wie ein Paradoxum erscheinen: meine Vision eines Highly
Sensitive Business. Aber lassen Sie uns daran arbeiten, dass eine nachhaltige
und hochsensible Unternehmenskultur zum neuen Leitbild wird! Ich bin überzeugt,
dass von dem Umdenken nicht nur die Unternehmen und die Hochsensiblen selbst
profitieren, sondern die ganze Gesellschaft.
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