Donnerstag, 22. Dezember 2016

Keine Weihnachtsgeschichte: HALB 3 AN DER BRÜCKE (Der kleine sehr rote Zettel)

Ein alter Mann geht langsam, sehr langsam, den Fußweg zwischen dem Haus und der Grünanlage entlang, wie schon so oft. Er geht immer langsam, eben so, wie alte Leute gehen. Doch dieses Mal ist etwas anders: Was liegt denn da?
Ein kleiner, roter, sehr roter Zettel auf dem Boden, mehrfach zusammengefaltet – wie Kinder es machen, wenn sie sich in der Schule kleine Nachrichten zuwerfen wollen. Der alte Mann bleibt stehen. Zögert kurz, schaut sich um, schaut wieder auf den kleinen sehr roten Zettel, schaut sich nochmal um. Dann bückt er sich langsam, sehr langsam, eben so, wie alte Leute sich bücken. 

Noch ein wenig mehr bückt er sich, macht mit dem hinteren Bein so etwas wie einen Ausfallschritt, so dass er noch tiefer hinunterkommt, und endlich hat er den kleinen, sehr roten Zettel auf dem Boden erreicht und ihn fest mit seiner Hand umschlossen. Wieder in der Vertikalen angekommen geht er erst mal langsam weiter, noch etwas langsamer, als gewöhnlich. In der linken Hand den kleinen zusammengefalteten roten Zettel. Er versucht ihn auseinanderzufalten, aber es will nicht so recht gelingen mit einer Hand – wenn die Hand auch nicht mehr so beweglich ist, wie früher, als er noch gemalt hat, mit ihr. Der alte Mann bleibt stehen, zögert kurz und stellt schließlich seine Einkaufstasche ab. Mithilfe beider Hände entfaltet er langsam, sehr langsam den kleinen sehr roten Zettel. Innen drin steht:

REBECCA LIEBT DICH. 
HALB 3 AN DER BRÜCKE WENN DU DICH TRAUST



Er liest es nochmal: REBECCA LIEBT DICH. HALB 3 AN DER BRÜCKE WENN DU DICH TRAUST …so steht es da, in Großbuchstaben, klein geschrieben, sehr klein, der alte Mann kann es gerade noch lesen. Es wird ihm ein Bisschen sonderbar zumute, er weiß ja, dass die Botschaft nicht für ihn auf den kleinen roten Zettel geschrieben wurde. Im ersten Moment will er den Zettel deshalb auch wieder wegwerfen, auf den Boden, nein, in den Papierkorb. Hmmh. Es ist keiner da. Er überlegt, ob er den Zettel mit nach Hause nehmen soll, um ihn dort wegzuwerfen. Oder soll er ihn wieder zusammenfalten und einfach genau an der Stelle auf den Boden zurücklegen, wo er ihn vor zwei Minuten aufgelesen hat? Vielleicht findet ihn ja derjenige noch, für den er bestimmt war… 

Wie er so überlegt, kommen ein paar Kinder vorbeigelaufen, vier Jungs mit Schulranzen, laut schnatternd, und er steckt den kleinen sehr roten Zettel ein wenig verlegen einfach schnell in seine Jackentasche. Die Buben beachten ihn überhaupt nicht. Er schaut ihnen hinterher und grinst nachdenkich in sich hinein: Vielleicht war der kleine rote Zettel ja doch für mich bestimmt? Schließlich hab ich ihn ja auch gefunden…

Zuhause angekommen verstaut er seinen Einkauf und setzt sich erst mal hin. Den kleinen sehr roten Zettel in der Hand denkt er über die Botschaft nach. Der erste Teil ist recht abstrakt: REBECCA LIEBT DICH. Rebecca – ein schöner Name, ein exotischer Name, er hat nie eine Rebecca gekannt. Nur eine Gerda... und eine Annemarie...

Seine Gedanken kreisen nun mehr und mehr um den zweiten Teil der Botschaft: HALB 3 AN DER BRÜCKE WENN DU DICH TRAUST – welche Brücke ist gemeint? Vermutlich der Steg über die Gleisanlagen, zwischen den Schulen und dem Bahnhof. Dort treffen sich oft die Jugendlichen nach der Schule... kein schöner Platz für ein romantisches Rendezvous. Was die jungen Leute da wohl immer hinzieht… Aber, Moment mal! 


Blitzartig fällt ihm die Pont Neuf in Paris ein, diese wunderschöne, sehr alte Brücke über die Seine – der Betriebsausflug 1965! Er stand an der Brücke, mit Ilona, seiner Kollegin, es hat so gekribbelt, er hätte sie so gerne einfach am liebsten in den Arm genommen und geküsst – aber er hatte sich nicht getraut, vor all den anderen… Ja, und dann hat Ilona einen anderen geheiratet und verließ ein Dreivierteljahr später die Firma. 

HALB 3 AN DER BRÜCKE WENN DU DICH TRAUST… 
traust du dich, alter Junge?

Er geht an den Garderobenspiegel und betrachtet sich kritisch, sehr kritisch: So wie du aussiehst, kannst du dich höchstens unter der Brücke mit den Tippelbrüdern treffen, und selbst die werden dich auslachen, in deiner langweiligen ausgetragenen Kluft. Wo ist eigentlich dieser Gutschein, den ich im Herbst bei dieser Werbeaktion in der Fußgängerzone gewonnen habe? Von diesem Herrenbekleidungsgeschäft, in das ich mich nie reingetraut hab… da ist er ja, er gilt sogar noch! Na also: Morgen früh geh ich da hin und lass mich mal anständig einkleiden. Und nun muss der Bart ab! Wie macht man das heutzutage: so ein klein Bisschen schmal stehen lassen, der Rest sauber ab. Da ist Feinarbeit gefragt, wie früher, beim Malen. Klappt aber doch noch ganz gut! Und sieht gar nicht mal schlecht aus – ein Bisschen ungewohnt, aber irgendwie flott, trotz grau!

Er schaut auf die Uhr. Es ist noch genug Zeit, um zum Friseur an der Ecke zu gehen, denn mit einem Mal kann er seine hilflos frisierte und doch eher zerzauste Haarpracht auch nicht mehr sehen. Also: Jacke wieder an und los!



Der alte Mann geht zielstrebig, sehr zielstrebig den Fussweg zwischen dem Haus und der Grünanlage entlang, wie schon so oft. Er geht zügigen Schrittes, eben so, wie Menschen gehen, die etwas vorhaben. Doch dieses Mal ist etwas anders: Die Menschen – teils Nachbarn, die er flüchtig kennt, teils Unbekannte – sie lächeln ihn an, freundlich, sehr freundlich, sie drehen sich um nach ihm, und er denkt: Wie sympathisch und aufmerksam und freundlich die Menschen heute sind… Hallo Herr Neubauer! Sie haben heut ja einen Zahn drauf! Wo solls denn hingehen? Er lacht: Zuerst zum Friseur und dann nach Paris! Und mit einem Mal weiß der alte Mann:

Um halb 3 an der Brücke beginnt ein neues Leben.



Autor: Mona Suzann Pfeil, Stuttgart, 07.02.2007

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